Nicht anfassen – nur gucken!«
Immer wieder stehen wir während eines Museumsbesuchs vor dem Distanz-Dilemma. Kunstwerke, die einst Teil des alltäglichen Lebens gewesen sind, stehen nun zur Schau – sie zu berühren geht aus vielerlei verständlichen Gründen allerdings nicht. Die Folge ist eine Diskrepanz zwischen dem Besucher und den Ausstellungsstücken, die viel zu häufig in Langeweile mündet, denn was man nicht berühren oder ausprobieren kann, verliert doch schnell an Interesse. In ihrem Ausstellungskatalog »Art is Therapy« vergleichen Alain de Botton und John Armstrong dieses Phänomen mit dem Blick durch ein Schaufenster, hinter welchem das kostbarste Essen zu sehen, aber nicht zu greifen, beziehungsweise zu schmecken ist. Ihre gleichnamige Sonderausstellung (Art is Therapy) ist längst aus den Sälen des Amsterdamer Rijksmuseums verschwunden. Geblieben sind allerdings ihre alternativen Ansätze, um Kunst anders, ja geradezu erstmals wahrhaftig zu sehen.
Es geht darum loszulassen
De Botton und Armstrong haben keine Scheu anzusprechen, was sich unterbewusst in uns abspielt, wenn wir die großen Museen dieser Welt betreten:
»Ich muss alles bewundern. (Wenn es hier ausgestellt ist, muss es sich um ein Meisterwerk handeln und ich kann es mir nicht anmaßen, mich nicht damit auseinanderzusetzen.«
Damit treffen sie einen Nerv und sprechen einem Großteil der Museumsbesucher aus der Seele. Denn es geht dabei um eine Sorge, die beinahe unbemerkt mit uns schwingt. Warum berührt und dieses Kunstwerk nicht? Haben wir etwas nicht verstanden? Alle anderen scheinen das Meisterwerk darin zu erkennen, aber selbst sieht man rein gar nichts besonderes daran – auch nicht beim zweiten Hingucken. Die Mona Lisa ist ein typisches Beispiel hierfür – sorgt sie doch immer wieder für Kopfschütteln und Verwunderung bei jenen, die den Weg zu ihr gefunden haben. »Viel kleiner als gedacht« oder auch »überhaupt nicht schön« sind diesbezüglich immer wiederkehrende Reaktionen.
Nicht schlimm – sagen die Ausstellungsmacher und begründen dies mit der psychologisch fundierten Tatsache, dass uns lediglich jene Kunst anspricht, die unser eigenes Innerstes widerspiegelt. Oder um es mit ihren eigenen Worten zu sagen:
»Leidest du nicht an dieser Krankheit, brauchst du diese Medizin auch nicht.«
Gelingt es also, sich von den – geglaubt auferlegten – Reaktionen und Sichtweisen zu befreien und seinem eigenen Bauchgefühl einen freien Lauf zu lassen, wird sich so manches Kunstwerk von einer ganz anderen, noch unbekannten Seite zeigen.
Der Café-Versuch: Eine Übung für den nächsten Galeriebesuch
Ein weiterer Aspekt des Distanz-Dilemmas ist die Tatsache, dass wir allem voran die Kunst, nicht aber die Person dahinter sehen. Und mit der Person dahinter ist an dieser Stelle nicht der Maler, sondern die porträtierte Person selbst gemeint – immerhin verbirgt sich hinter den meisten Gemälden die Abbildung eines realen Mensch oder zumindest dessen, als was sich dieser einst gerne selbst sehen wollte. In den Gemäldegalerien häufen sich die Bildnisse von Alltagsszenen, Versammlungen und Familienporträts, und da sich in den meisten Museen mindestens ein als Meisterwerk betiteltes Kunstwerk befindet, huscht ein Großteil der Besucher eher an diesen Gemälden vorbei – denn es geht ihnen darum, das Hauptwerk zu sehen.
Was soll man auch anfangen mit einem Bild von einem Maler, den man nicht kennt und mit der Abbildung von Menschen, von denen man ebenfalls noch nie etwas gehört hat?
Entgegen jeglichen Erwartungen – viel!
De Botton und Armstrong bieten sogar eine durchaus interessante Herangehensweise an diese Malerei:
Man stelle sich einfach vor in einem geschäftigen Restaurant oder Café zu sein und die Gedanken zu den jeweiligen Personen kommen beinahe wie von selbst. Und – geben wir es an dieser Stelle einfach ehrlich zu – wir alle haben schon einmal die Freude an der Spekulation über das wahre Wesen unserer Mitmenschen verspürt. Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert. Wer weiß, vielleicht entpuppt sich so hinter manch einem unscheinbaren Bild der reinste Spaß.
Die bewusste Konfrontation mit der Realität
Neben jeglicher Experimentierfreudigkeit bleibt allerdings auch eine ganz andere Alternative für den Museumsbesuch – die Auseinandersetzung mit dem, was uns so manches Kunstwerk vermittelt. Und dabei geht es nicht um die stetig wiederkehrende Frage: »Was will uns der Künstler damit sagen?«, sondern viel mehr darum, worauf uns ein besagtes Bild im Hier und Jetzt aufmerksam macht, wenn wir nur gründlich hinsehen.
Ein Beispiel hierfür sind Stillleben. Sie gehören, ähnlich wie die vielen Porträts von Unbekannten, zu jenen Ausstellungsstücken, an denen hauptsächlich ein oberflächlicher Blick vorbei schwebt. Sie scheinen sich alle zu ähneln und bei den wenigsten Museumsbesuchern auf ein wahrhaftiges Interesse zu stoßen. Dabei bergen ihre Motive durchaus Anhaltspunkte, die es wert sind, überdacht zu werden. Immerhin stammen diese Stillleben aus einer Zeit, in der viele der abgebildeten Lebensmittel nicht so alltäglich gewesen sind, wie für den heutigen Betrachter (der es gewohnt ist, nahezu alles im Supermarkt zu finden, auf das er gerade Lust hat). Vor diesem Hintergrund wird beispielsweise aus dem gewöhnlichen Hummer oder einer Zitrone ein Luxusgut, das einst exotisch und beeindruckend auf seine Betrachter wirkte. Auf diese Feststellung hin stellt sich also unmittelbar die Frage, warum wir heute nicht mehr über den Hummer staunen? Warum sind wir nicht mehr beeindruckt?
Vielleicht ist es an der Zeit, vor dem nächsten Stillleben innezuhalten und sich vor Augen zu führen – ja regelrecht anzuerkennen – wofür es steht. Und vielleicht hilft uns das tatsächliche Betrachten der Stillleben damit, den uns umgebenden Luxus wiederzuerkennen und ihn beim nächsten Einkauf entsprechend zu würdigen.
Es sind einfache Beobachtungen wie diese, welche die Sonderausstellung Art ist Therapy zu einem regelrechten Augenöffner gemacht haben. Ihre Botschaft ist zusammengefasst nahezu ebenso schlicht:
»Traue Dich, die Kunst mit Deinen eigenen Augen zu sehen!«
Im diesem Sinne – viel Erfolg!